Beitrag in Jahrbuch 2021
Landwirtschaftliches Bauwesen Gesamtbetriebliches Haltungskonzept Rind – Milchkühe
Einleitung
Eine zukunftsfähige Milchviehhaltung steht in allen Regionen Deutschlands vor vielfältigen Herausforderungen. Im Fokus der gesellschaftlichen Diskussion und damit der generellen Akzeptanz der Landwirtschaft auf Seiten der Verbraucher steht die Verbesserung des Tierwohls. Gesteigerte ökologische Anforderungen und die daraus folgenden genehmigungsrechtlichen Vorgaben für Um- und Neubaumaßnahmen wirken sich in entsprechenden baulich-technischen Maßnahmen von der Reduzierung der Emission klimaschädlicher Gase über den Schutz des Grundwassers bis hin zur Eindämmung der Flächenversiegelung aus. Trotz des daraus folgenden gesteigerten Investitionsaufwands müssen die Betriebe am Ende im Wettbewerb auch betriebswirtschaftlich bestehen.
In diesem Spannungsfeld wurden im Rahmen des von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) geförderten Projekts: „Gesamtbetriebliches Haltungskonzept für Milchkühe“ von einer bundesweit vernetzten Expertengruppe zukunftsfähige Stallbaukonzepte für die Milchviehhaltung entwickelt. Das Ergebnis dieser interdisziplinären Zusammenarbeit von Haltungsexperten, Ethologen, Betriebswirten und Baufachleuten steht in Form eines Arbeitsheftes [1] interessierten Landwirten, Beratern, Wissenschaftlern, Planern, ausführenden Firmen, politischen Entscheidern, Verbrauchern und sonstigen Akteuren rund um das Thema einer nachhaltigen Milchviehhaltung zur Verfügung.
Beginnend mit einem Einleitungsteil zu den Themenfeldern „Tierwohl“, „Ökologie“ und „Ökonomie“ werden in dieser Veröffentlichung zunächst die spezifischen Funktionsbereiche in der Milchviehhaltung beschrieben. Aus den drei Themenfeldern wurden gleichnamige Arbeitsgruppen gebildet, die diese Funktionsbereiche einer spezifischen Bewertung unterzogen haben. Darauf aufbauend sind die von den drei Arbeitsgruppen jeweilig positiv bzw. hoch priorisierten Ausstattungsmerkmale in einem eigenen Stallmodell für jeweils 220 laktierende Kühe planerisch umgesetzt worden. Da ein eindimensionaler Optimierungsprozess nicht den vielfältigen Anforderungen an einen zukunftsfähigen Milchviehbetrieb gerecht werden kann, wurde wiederum gemeinsam aus einem Querschnitt aller priorisierten Kriterien ein sogenannter „Kompromissstall“ entwickelt, der als Machbarkeitsstudie wegweisende Anstöße für künftige Stallbauvorhaben geben soll. Gleichzeitig spiegeln sich insbesondere in dieser Modellplanung auch Zielkonflikte wider, wie z. B. die Anforderung nach mehr Bewegungs- und Liegefläche zur Steigerung des Tierwohls einerseits und der daraus resultierenden Erhöhung der emittierenden Flächen andererseits.
Erklärung und Bewertung der einzelnen Funktionsbereiche
Kernteil dieser Veröffentlichung ist die Darstellung der für die Milchviehhaltung spezifischen Funktionsbereiche: Liegen, Bewegung, Laufhof, Futter- und Wasseraufnahme, Melken mit Vorwartebereich, Treibgänge, Sonderbereiche (Abkalbe- und Krankenbuchten) bis hin zu Detailfragen wie Beleuchtung und Stallklima. Diese werden zunächst allgemein beschrieben und durch Fotos und Grafiken ergänzt. Dabei werden jeweils die ethologischen Grundlagen, generelle Anforderungen aus dem Tierwohl und Empfehlungen für die bauliche-technische Umsetzung in der Praxis erläutert. Um zum Teil bekannte offene oder aber aus dem Arbeitsprozess entstandene neue Fragestellungen im Sinne eines Wissensspeichers zu sichern und Anregungen für künftige Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu geben, wird jeder Funktionsbereich noch um den Aspekt der Visionen abgerundet. Ziel war dabei nicht, eine Beratungsunterlage mit umfassenden Beispielen zu Funktions- und Detailplanungen, Flächen- und Maßangaben zu erstellen, sondern die Leserschaft grundsätzlich an die unterschiedlichen Sichtweisen aus den Themenfeldern auf die Funktionsbereiche in der Milchviehhaltung heranzuführen.
Dem Grundlagenteil steht eine Gesamtmatrix gegenüber, in der die baulich-technischen Umsetzungsmöglichkeiten und Verfahrenstechniken innerhalb der jeweiligen Funktionsbereiche detailliert aufgeführt sind. Diese entsprechen dem Stand der Technik bzw. der guten fachlichen Praxis in der Milchviehhaltung und sind aus den drei Themenfeldern heraus qualitativ bewertet. Im Themenfeld „Tierwohl“ sind dies die Kriterien Auswirkungen auf das Verhalten sowie Gesundheit und Physiologie. Im Themenfeld „Ökologie“ werden das Minderungspotenzial für die Emissionen sowie der Ressourcenverbrauch (Energie, Fläche) und von Seiten der „Ökonomie“ die Investitionskosten, das Verbrauchsmaterial (Energie, Wasser), die Arbeitseffizienz und das Kriterium Management bewertet (Bild 1).
Bild 1: Ausschnitt der Bewertungsmatrix zu den Funktionsbereichen Freies und Gesteuertes Liegen [1]
Figure 1: Excerpt from the evaluation matrix for the functional areas of free and controlled lying [1]
Im daran anschließenden Kapitel „Detailseiten“ werden die spezifischen Bewertungen der Funktionsbereiche aus den einzelnen Themenfeldern heraus in Text- bzw. Tabellenform erläutert und begründet. Visionäre Haltungsformen, Bauweisen oder Techniken sind hier nicht aufgeführt, da für diese mangels praktischer Erprobung bzw. wissenschaftlicher Untersuchungen eine Bewertung noch nicht möglich ist. Umgekehrt bedeutet eine weniger gute Bewertung nicht, dass ein bestimmtes System nicht durch entsprechende Verbesserungen weiterentwickelt werden kann.
Stallmodelle
Die Bewertungen aus diesem Grundlagenteil spiegeln sich für die jeweilige Arbeitsgruppe in den drei Stallmodellen wider.
Tierwohlstall
Aus der Frage, bis zu welcher Gruppengröße sich die Tiere individuell kennen, ist die Herde von 220 laktierenden Milchkühen im Tierwohlstall in vier Gruppen zu je 60 Kühen aufgeteilt, die wiederum jede für sich einen eigenen Stall mit einer automatischen Melkeinheit erhält. Die Wahl einer kreisförmigen Bauform begründet sich aus dem guten Überblick, den die Tiere durch diese Form im Stall erhalten. Aus Sicht des Tierwohls wird das freie Liegen am höchsten priorisiert, das auf Betrieben z. B. in Form von Kompostierungsställen bereits erfolgreich betrieben wird. Die Futterachse umschließt ringförmig die gesamte Liegehalle und wird von den Tieren über einen planbefestigten Rundweg, der die für die physiologischen Prozesse bedeutsame Bewegung fördert, und separate Fütterungszonen erreicht. Für das bauliche Gesamtkonzept wurde eine mehrhäusige Bauweise mit einer separaten Überdachung der Liegehalle und der Futterachse gewählt. Zwischen den Teilgebäuden liegt ein nicht überdachter Auslaufbereich, der den Tieren ganzjährig Zugang zu den Außenklimareizen ermöglicht. In den Sommermonaten stehen den Kühen darüber hinaus stallnahe Weideflächen zur Verfügung. Durch einen entsprechenden Dachaufbau und die Begrünung der Dachflächen zur Pufferung der Sonneneinstrahlung wird den Anforderungen an den sommerlichen Hitzeschutz in einem freigelüfteten Außenklimastall bestmöglich entsprochen (Bild 2).
Bild 2: Grundriss und Schnitt des Tierwohlstalles
Figure 2: Floor plan and section of the animal welfare stable
Ökonomiestall
Im Fokus der Betriebswirtschaft stehen möglichst niedrige Bau- und Arbeitserledigungskosten. Vor diesem Hintergrund wurde für die Gebäudehülle eine aufgelöste, mehrhäusige Bauweise gewählt. Durch geringere Spannweiten und ein kleineres Bauvolumen werden der Material- und Herstellungsaufwand für das Tragwerk und die Gebäudehülle verringert und damit die Baukosten reduziert. Um die Wege und die Übersichtlichkeit zu optimieren, liegen das Melkzentrum und die Sonderbereiche in der Mitte der Stallanlage. Durch diese Anordnung wird die Herde in zwei Gruppen á 110 Tiere geteilt. Auch wenn der Investitionsbedarf zunächst höher ist, sollen durch automatische Melksysteme die Arbeitsprozesse optimiert werden. Das Ziel dabei ist, dass dem Landwirt einerseits mehr Zeit für das Herdenmanagement, aber auch mehr Frei- und damit Erholungszeit zur Verfügung steht. Liegeboxen mit Gummimatten und planbefestigte, gummierte Laufflächen mit Entmistungsschieber optimieren einerseits den Tierkomfort und gleichzeitig die Arbeitswirtschaft.
Ökologiestall
Vorrangiges Ziel beim Ökologie- bzw. Umweltstall ist die Verringerung der versiegelten Fläche. Dazu wurden aus mehreren untersuchten Varianten eine sog. 5+1-Liegeboxenaufstallung mit einer durchgehenden Futterachse und einer zweigeteilten Stichfuttertischachse ausgewählt. Bis auf eine Sondergruppe mit 30 Liegeboxen jenseits der durchgehenden Futterachse sind alle Tiere in einer Großgruppe zusammengefasst. Auch wenn diese Boxenform wegen der höheren Verschmutzung der Tiere in der aktuellen Ausgestaltung nicht für Praxisbetriebe empfohlen wird, sind an den Stichfuttertischen beiderseitig Fress-Liege-Boxen angeordnet. Dadurch kann für einen Teil der Herde flächensparend auf einen zusätzlichen Fressgang und Futtertisch verzichtet werden. Auch bei der Futterlagerung wird mit Hochsilobehältern auf eine vom Prinzip her ältere Technik zurückgegriffen. Aufgrund der gegenüber Fahrsilos erheblich geringeren Standfläche könnte mit dem Einsatz einer weiterentwickelten Form der vertikalen Futterlagertechnik der Flächenbedarf minimiert werden. Dazu würden die für den Gewässerschutz notwendigen kostenintensiven Abdichtungen und Aufwendungen zum Management des Niederschlagswassers entfallen. Die Technikräume liegen im Gebäude, die Milch wird giebelseitig in einem vertikalen Tank ohne weitere Einhausung gelagert. Auch für diese Stallvision wird die Arbeitserledigung durch Roboter präferiert. Im Unterschied zum Ökonomiestall steht hier der Einsatz von regenerativem Strom aus der PV-Anlage oder Biogaserzeugung an Stelle des Verbrauchs von fossiler Energie (z. B. bei der Futtervorlage durch den Schlepper mit Futtermischwagen bzw. Selbstfahrer) im Vordergrund. Zur Emissionsminderung ist die Trennung von Kot und Harn per Kotsammelroboter und Kuhtoiletten eingeplant.
Kompromissstall
In diese Planung fließen die aus den jeweiligen Arbeitsgruppen besonders präferierten Einzelaspekte ein. Durch eine mehrhäusige, erweiterungsfähige Bauweise mit geringem Bauvolumen und integrierten Laufhöfen werden der Flächenverbrauch optimiert und gleichzeitig der Bauaufwand und damit die Baukosten gesenkt. Die Herde ist wie beim Ökonomiestall als Kompromiss hinsichtlich der individuellen Erkennung der Tiere untereinander in zwei Gruppen á 110 Tiere geteilt, wovon jede eine eigene Liegehalle erhält. Im Unterschied zum Ökonomie- und Ökologiestall befinden sich die Technikräume, zusammen mit den Sonderbereichen, in einem separaten Gebäude. Damit ist auch hier die Erweiterungsfähigkeit, insb. der eingestreuten Abkalbe- und Krankenbuchten, gegeben. Die Teilställe sind mit je 2x2 Reihen gegenständiger Liegeboxen und angehobenen Fressplätzen an den zentralen Stichfuttertischen ausgestattet. Über spezielle Laufflächen sollen Kot und Harn getrennt und die Emissionen reduziert werden. Auch im Kompromissstall wird den arbeitswirtschaftlichen Aspekten und dem Tierwohl durch Melk- und Fütterungsroboter Rechenschaft geleistet. Begrünte und mit Fotovoltaik ausgestattete Stalldächer dienen der Kühlung der Stallgebäude und der Energiegewinnung (Bild 3).
Bild 3: Perspektivische Darstellung des Kompromissstalls
Figure 3: Perspective representation of the compromise stable
Zusammenfassung und Ausblick
Durch die systematische und vor allem interdisziplinäre Aufbereitung der Funktionsbereiche sowie die qualitative Bewertung durch das Expertengremium ist eine umfassende Informations-, Beratungs- bzw. Planungs- und Entscheidungsgrundlage geschaffen worden, die zugleich auch den künftigen Forschungsbedarf zu vielen noch offenen Fragen, z. B. in den Bereichen der Tier-Gebäude- bzw. Tier-Technik-Interaktion oder der Reduzierung der Umweltwirkungen dokumentiert. Durch die Umsetzung in Stallbaubeispielen, die zum Teil auf den Stand der Technik bzw. die gute fachliche Praxis zurückgreifen, kann gezeigt werden, dass im Bereich der Milchviehhaltung durch die intensive Forschungs- und Entwicklungsarbeit der letzten 30 Jahre bereits viele baulich-technische Ansätze erarbeitet und umgesetzt wurden, die auch in der Zukunft Bestand haben werden. Auch wenn in ersten Pilotprojekten in der Praxis und in Forschungseinrichtungen auf das Potenzial hingewiesen werden kann, zeigt sich aber gleichzeitig, dass insbesondere im Bereich der Automatisierung und Digitalisierung (z. B. intelligente Fressgitter, Entmistungsroboter), aber auch für bei weitem noch nicht etablierte Haltungsverfahren (z. B. Freies Liegen, frei zugängliche Abkalbungsbereiche), Bauweisen (z. B. Holzbau, mehrhäusiges Bauen, baulich-technische Maßnahmen zur Optimierung des Stallklimas) sowie im Bereich des Einsatzes von Techniken zur Reduzierung der Umweltwirkung (z. B. Kot-Harntrennung, schnelles Reinigen der Aktivitätsflächen) noch ein hoher Umsetzungs- und Entwicklungsbedarf besteht, um ein gesteigertes Tierwohl und die angestrebten Ziele im Umweltschutz bei einem gleichzeitigen Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Milchvieh haltenden Betriebe in Deutschland zu erreichen.
Literatur
[1] Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (Hrsg.): Gesamtbetriebliches Haltungskonzept Rind: Milchkühe. Bonn 2022.
Autorendaten
Dipl.-Ing. Architekt Jochen Simon ist Leiter der Abteilung Landwirtschaftliches Bauwesen & BauForum in der ALB Bayern e.V., Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Institut für Landtechnik und Tierhaltung.
Dip.-Ing. agrar. Andreas Pelzer ist stellv. Leiter VBZL Haus Düsse und leitet den Sachbereich Rinderhaltung, Referent für Rinderhaltung der LWK NRW.